
Bild: Christoph Helfrich
Die Drosouliten von Frangokastello: Ein Phänomen zwischen Mythos und Geschichte.
Die Drosouliten, oder „Tautropfen-Menschen“, von Frangokastello auf Kreta sind eines der faszinierendsten und rätselhaftesten Phänomene Griechenlands. Jedes Jahr im späten Frühling, kurz vor Sonnenaufgang, soll sich in der Nähe der venezianischen Burg Frangokastello eine Reihe von Schattenbildern zeigen, die wie marschierende Soldaten aussehen. Dieses Phänomen ist tief in der lokalen Überlieferung verwurzelt und zieht seit Jahrhunderten sowohl Skeptiker als auch Gläubige an.
Das Phänomen der Drosouliten.
Die Erscheinung der Drosouliten wird typischerweise Ende Mai oder Anfang Juni beobachtet, meist zwischen den frühen Morgenstunden und Sonnenaufgang. Die Sichtungen sind selten und nur unter sehr spezifischen Wetterbedingungen möglich: eine hohe Luftfeuchtigkeit, oft nach einer regnerischen Nacht, und ein klarer Himmel am Morgen, der das Sonnenlicht in einem bestimmten Winkel aufsteigen lässt. Die Schattenfiguren sollen sich vom Süden her nähern, sich an der Burg vorbeibewegen und schließlich im Meer verschwinden. Sie werden als dunkle, menschenähnliche Umrisse beschrieben, die sich in Reihen bewegen, manchmal mit angedeuteten Waffen oder Helmen. Die Erscheinungen sollen nur wenige Minuten dauern und verschwinden, sobald die Sonne höher steigt oder die Luftfeuchtigkeit abnimmt. Manchmal wird berichtet, dass sie von einem leisen Geräusch wie Trommeln oder dem Geräusch von Schritten begleitet werden.
Historischer Hintergrund und die Schlacht von Frangokastello.
Der Ursprung der Legende der Drosouliten ist untrennbar mit der blutigen Geschichte Kretas und insbesondere der Schlacht von Frangokastello im Jahr 1828 verbunden.
Kreta war zu dieser Zeit Teil des Osmanischen Reiches, und die griechische Revolution (1821-1829) hatte das Land erfasst. Trotz der Bemühungen des griechischen Festlandes, Kreta zu befreien, blieben die osmanischen Truppen auf der Insel stark präsent.
Im Mai 1828 landete eine kleine Truppe griechischer Revolutionäre unter dem Kommando von Hatzimichalis Dalianis in Sfakia, einer traditionell rebellischen Region Kretas. Dalianis, ein fähiger Anführer aus Epirus, hatte das Ziel, die osmanische Herrschaft auf der Insel zu schwächen und die kretischen Aufständischen zu unterstützen. Er und seine etwa 300 Männer, meist griechische Kämpfer, besetzten die strategisch günstig gelegene venezianische Burg Frangokastello, die sich an der Südküste Kretas befindet. Sie begannen, die Burg zu befestigen, in der Hoffnung, sie als Basis für weitere Operationen zu nutzen.
Die osmanischen Streitkräfte auf Kreta, angeführt von Mustafa Naili Pascha, reagierten schnell und entschlossen auf diese Bedrohung. Mustafa Pascha, der kretische Statthalter, war ein erfahrener Militärführer und sammelte eine wesentlich größere Armee von mehreren tausend Mann, darunter reguläre Truppen und irreguläre albanische Söldner.
Am 18. Mai 1828 (nach dem Julianischen Kalender, der damals in Griechenland verwendet wurde; nach dem Gregorianischen Kalender wäre es der 30. Mai) umzingelten die osmanischen Truppen die Burg Frangokastello. Die griechischen Verteidiger waren zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen, aber sie weigerten sich, sich zu ergeben. Es entbrannte eine heftige Schlacht.
Die griechischen Revolutionäre leisteten erbitterten Widerstand. Trotz ihrer geringen Zahl kämpften sie mutig und fügten den osmanischen Angreifern erhebliche Verluste zu. Hatzimichalis Dalianis selbst kämpfte an vorderster Front. Die Schlacht war kurz, aber extrem blutig. Angesichts der überwältigenden Übermacht der Osmanen war das Schicksal der Verteidiger jedoch besiegelt. Fast alle griechischen Kämpfer, einschließlich Dalianis, fielen in der Schlacht. Die Osmanen stürmten die Burg und nahmen keine Gefangenen. Die Leichen der gefallenen Griechen wurden nach der Schlacht enthauptet und ihre Köpfe auf Pfähle gespießt, um als Abschreckung zu dienen – eine gängige Praxis der Osmanen.
Die Schlacht von Frangokastello war ein tragisches, aber heroisches Kapitel des griechischen Unabhängigkeitskampfes auf Kreta. Obwohl sie militärisch eine Niederlage war, wurde sie zu einem Symbol des Widerstands und des Opfers.
Die Verbindung zwischen den Drosouliten und der Schlacht.
Die Legende besagt, dass die Drosouliten die Geister der gefallenen griechischen Kämpfer von 1828 sind. Es wird angenommen, dass sie jedes Jahr zum Jahrestag der Schlacht erscheinen, um ihre letzte Ehre zu erweisen oder ihren unvollendeten Kampf fortzusetzen. Die Tatsache, dass die Erscheinungen im späten Frühling, oft um den Zeitraum des 18. Mai (Julianischer Kalender), stattfinden, verstärkt diese Verbindung. Die „Tautropfen-Menschen“ werden als blasse Schatten wahrgenommen, die sich über das Feld bewegen, als würden sie marschieren – eine eindringliche Erinnerung an die Soldaten, die hier ihr Leben ließen.
Wissenschaftliche Erklärungsversuche.
Obwohl die Legende der Drosouliten fest in der lokalen Folklore verankert ist und von vielen als übernatürliches Phänomen betrachtet wird, gibt es auch wissenschaftliche Erklärungsversuche:
- Fata Morgana (Luftspiegelung): Dies ist die am häufigsten genannte wissenschaftliche Erklärung. Unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen, insbesondere wenn unterschiedliche Luftschichten unterschiedliche Temperaturen aufweisen (und somit unterschiedliche Dichten), kann Licht auf eine Weise gebrochen werden, die entfernte Objekte verzerrt oder spiegelt. In diesem Fall könnten die Drosouliten eine Art oberer Luftspiegelung sein, bei der entfernte Objekte (wie vielleicht Tiere, Menschen oder Felsformationen) am Horizont gespiegelt und verzerrt werden und so die Illusion einer marschierenden Armee erzeugen. Die Feuchtigkeit in der Luft würde die Bedingungen für eine solche Spiegelung begünstigen.
- Optische Täuschung: Das Phänomen könnte auch eine komplexe optische Täuschung sein, die durch das Zusammenspiel von Licht, Schatten, Nebel und der spezifischen Topographie des Gebiets entsteht.
- Massenpsychose oder Suggestion: Obwohl weniger wahrscheinlich als alleinige Erklärung, könnte die starke Erwartungshaltung und die tief verwurzelte Legende dazu beitragen, dass Menschen die Erscheinungen sehen, wo keine sind, insbesondere in Verbindung mit schwachen optischen Reizen.
Es ist wichtig zu beachten, dass keine dieser wissenschaftlichen Erklärungen das Phänomen vollständig und unwiderlegbar erklärt hat. Die genauen Bedingungen, die zu den Drosouliten führen, sind schwer reproduzierbar und die Erscheinungen bleiben selten und flüchtig.
Bedeutung und Kulturerbe.
Unabhängig von der wissenschaftlichen Erklärung bleiben die Drosouliten ein integraler Bestandteil der kretischen Kultur und Geschichte. Sie sind ein mächtiges Symbol für:
- Patriotismus und Opfer: Die Legende ehrt die gefallenen Kämpfer der griechischen Unabhängigkeit und erinnert an ihren Mut und ihr Opfer für die Freiheit.
- Historisches Gedächtnis: Sie hält die Erinnerung an die tragische Schlacht von Frangokastello lebendig und dient als Mahnung an die blutige Vergangenheit Kretas.
- Der anhaltende Mythos: Für viele Einheimische sind die Drosouliten nicht nur ein optisches Phänomen, sondern eine echte übernatürliche Erscheinung, die das Andenken an die Helden bewahrt.
- Tourismus und Mystik: Das Phänomen zieht auch neugierige Besucher und Forscher an, die versuchen, eine Sichtung zu erleben oder das Rätsel zu lüften.
Die Drosouliten von Frangokastello sind somit mehr als nur ein Gerücht oder eine optische Täuschung. Sie sind ein lebendiges Stück Geschichte, das die kretische Seele und ihren unbezwingbaren Geist widerspiegelt, eingebettet in eine Aura des Mysteriums, die die Fantasie der Menschen seit Jahrhunderten beflügelt.
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Bilder: Christoph Helfrich
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